Germany, Berliner Zeitung: Marvin Ein psychologisches Meisterstück (german)

Berliner Zeitung

Marvin ist ein Schuljunge, der unentwegt gedemütigt, geschlagen und als Schwuchtel beschimpft wird. Aber seinem entschlossenen Mund und dem kritischen Blick sieht man an, dass er gewillt ist, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Dann begegnen wir ihm ein paar Jahre später. Aus dem gehänselten Kind ist ein junger Mann geworden, der das Leben in der Provinz gegen eine Karriere als Schauspieler und Autor in Paris eingetauscht hat. Hier kann er sich offen zu seiner Homosexualität bekennen – und die Partnerin in seinem ersten, selbst verfassten Theaterstück ist niemand anderes als Isabelle Huppert.

Das Gepäck der kleinbürgerlichen Herkunft
Die 1959 in Luxemburg geborene Regisseurin Anne Fontaine, deren Karriere 1980 als Schauspielerin in David Hamiltons Erotikklassiker „Zärtliche Cousinen“ begann, erzählt in ihrem großartig vielschichtigen Film nicht bloß einfach von einem, der es gegen alle Widerstände geschafft hat.

Sie zeigt auch das Gepäck, das der Junge aus den sogenannten kleinen Verhältnissen immer noch mit sich herumschleppt: Schwulsein ist in der hippen Pariser Umgebung kein Problem mehr, seine kleinbürgerliche Herkunft aber umso mehr.

Als wolle er das graue, unaufgeräumte Elternhaus in der nordfranzösischen Tristesse mit Gewalt der Erinnerung entreißen, sucht Marvin die Nähe reicher und schöner Menschen – die von Roland etwa, dem Unternehmer, oder eben von Isabelle Huppert, die nonchalant sich selbst spielt und gleichzeitig für Marvin wie jene Mutter wird, die er sich immer ersehnt hat. Aber wie leicht können all sie ihn dann doch wieder an seine ärmliche Herkunft erinnern – einfach nur, weil sie das Champagnerglas so viel eleganter halten als er.

Ein Vater, der sich um sein Kind sorgt
Es ist ein psychologisches Meisterstück, das Anne Fontaine mit „Marvin“ liefert, und zu besonderer Tiefe gelangt ihre Studie, wenn sie das Verhältnis des verlorenen Sohnes zu seinen wirklichen Eltern, vor allem zum übergewichtigen, stets übellaunigen Vater schildert.

Wie abstoßend wirkt dieser Dany, wenn er halb nackt im Haus herumlungert, nach Bier und Grillfleisch giert und mit finsterer Miene an kaputten Elektrogeräten herumschraubt. Doch als Marvin nach Paris aufbricht, steht Dany plötzlich am Bahnhof und weiß nicht, wohin mit seinen nervösen Händen.

Er überreicht seinem Sohn einen Umschlag mit Geld und warnt ihn vor den Arabern in der Hauptstadt. Marvin schweigt kalt, und das ist ihr Abschied. Unversehens ist dieser Nicht-Charakter, dieser hässliche Kloß, den man am liebsten übersehen will, ein Vater, der sich, wie ungeschickt auch immer, um sein Kind sorgt. Später werden sie sogar miteinander reden.

Zwei Gesichter
Dass es Anne Fontaine gelingt, diese schillernde Ambiguität in den Figuren wie in den Verhältnissen offenzulegen, dass hier niemand nur strahlender Held oder nur proletarisches Wrack ist, diese große Genauigkeit der Beobachtung macht die Leistung ihres Films aus.

Kongenial wächst dabei Jules Porier als kindlicher Marvin zu Finnegan Oldfield als junger Mann heran, zwei Gesichter einer Figur, die allen Wandlungen zum Trotz doch sie selbst bleibt. Bei den Filmfestspielen in Venedig wurde der Film in diesem Jahr mit dem Queer Lion ausgezeichnet.

Marvin, Frankreich 2017. Regie: Anne Fontaine. Drehbuch: Pierre Trividic, Anne Fontaine. Darsteller: Finnegan Oldfield, Grégory Gadebois, Vincent Macaigne, Catherine Salée, Jules Porier, Catherine Mouchet, Charles Berling, Isabelle Huppert. 114 Minuten, Farbe. FSK: ab 12

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